Coseriu, Eugenio (2024): Einführung in die Phonologie für Romanisten. Bearbeitet und herausgegeben von Wolf Dietrich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co, Tübingen, 210 S. ISBN 978-3-10971-5 (Print).

Coseriu, Eugenio (2024): Introduction to Phonology for Romance researchers. Edited and compiled by Wolf Dietrich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co, Tübingen, 210 S. ISBN 978-3-10971-5 (Print).

Laut Hrsg. Dietrich (Vorwort, S. 9-13) beruht vorliegende Einführung auf der Auswertung zweier Manuskripte Coserius, die er für seine Vorlesung “Prinzipien der Phonologie” an der Universität Tübingen 1972 angelegt hat. Teil I: Allgemeine Phonologie (Kap. 1-5, S. 15-93) liefert mit einer kommentierten Lektüre der Grundzüge der Phonologie von N. S. Trubetzkoy (1939) eine Einführung in die klassische Phonologie der Prager Schule der 1940er - 1970er Jahre. Teil II: Romanische Philologie (Kap. 1-8, S. 95-190) bietet eine ausführliche Beschreibung der Lautnormen des Französischen, Italienischen und Spanischen. Die Veröffentlichung der beiden Vorlesungsmanuskripte rechtfertigt Dietrich einerseits mit der Weiterentwicklung der Phonologie, andererseits mit dem Hinweis, dass heutige Einführungen zur Phonologie im Wesentlichen auf Einzelsprachen wie z.B. Deutsch oder Englisch beschränkt seien (vgl. Bibliographie, 191-204), die aber Coserius Sicht der Entstehung wie auch der Vorzüge oder Grenzen der Thesen Trubetzkoys und seiner Anhänger nicht ausloten würden. Dietrich empfiehlt mit Blick auf die Phonologie als Grundpfeiler des Strukturalismus die Lektüre von Jörn Albrecht (2007/ 2024, https://doi.org/10.1075//hl.00133.alb). Ein weiteres Argument zur Herausgabe der Manuskripte sei deren romanistischer Anspruch: laut Hrsg. gibt es keine andere romanistische Phonologie, die die Ergebnisse der romanischen Einzelsprachen im Vergleich darstellt, weder der Manuel des langues romanes (Klump/Kramer/Willems 2014) noch die Arbeit von Jens Lüdtke (Romanistische Linguistik, 2019); Dietrich empfiehlt (13) aus der von ihm ergänzten Bibliographie Coserius (191-204) folgende einzelsprachlich/ romanistische Titel , z.B. Gabriel, Christoph/ Meisenburg, Trudel/Selig, Maria (2013/ 22024); Heinz, Matthias & Stephan Schmid (2021); Krefeld, Thomas/Pustka, Elissa (2014); Pustka, Elissa (22016). Ob die an einer Einführung in die Grammatik, in die Phonetik/ Phonologie des Italienischen, Spanischen, Französischen und des Rumänischen interessierten Romanist:innen ihr Lernprogramm aber gerade nach der umfassenden Strukturalismus/ Glossematik-Geschichte Coserius ausrichten wollen, bleibt offen. Das Interesse für die “Einzelsprache” dürfte jeweils die Oberhand gewinnen.

I. Einleitung: Grundlagen (17-34): Eine Darstellung der Phonologie ist - im Sinne des Autors - die am besten geeignete Einführung in die strukturelle Sprachwissenschaft, da Begriffe, die in der Phonologie entstanden und geprägt wurden, wie z.B. “unterscheidender Zug”, “Opposition”, “Einheit”, “Neutralisierung”, “Merkmal”, “Variante” usw. auf andere Gebiete der Sprachstruktur übertragen worden seien, bis in die Texte, die Literatur und in die

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Verhaltensforschung hinein. Die terminologische Trennung zwischen Phonologie – Phonetik geht im Wesentlichen auf Trubetzkoy (1939) zurück,1 nachdem der Terminus bereits bei Ferdinand de Saussure (1916, Cours de linguistique générale) in anderer Bedeutung erschienen war, wonach Phonologie der synchronischen Betrachtung der Laute entspricht, die Phonetik dagegen der diachronischen. Die wichtigsten Autoren klassischer Werke zur Phonologie, zur Diskussion und Einschätzung der Phonologie, zur Geschichte der Phonologie, des Terminus “Phonem”, finden sich in Kap. 1 Einleitung: Grundlagen (19-21): Titel/ Jahreszahl, z.B. Daniel Jones (1950), Nicolaas van Wijk (1939), Roman Jakobson and Morris Halle (1956), Charles Francis Hockett (1955), André Martinet (1955/ 196), Jakobson (1931a), William Freeman Twadell (1935), Eugenio Coseriu (1952: Sistema, norma y habla, Montevideo), Herbert Pilch (1958); zur Geschichte der Phonologie: Jan Baudouin de Courtenay (1983), Próba teorii alternacyj fonetycznych, W Krakowie.2 Zunächst wird Das Verhältnis Phonem – Alphabetschrift mit Blick auf das Phonem als Grundbegriff der Phonologie mit ihren phonischen Einheiten im Sinne einer jeden historischen Einzelsprache aus zwei kontroversen Sichten behandelt (22-31): das Phonem sei eine Fiktion, entstanden aufgrund der Alphabetschrift – im Gegenteil, es sei eine sprachliche Realität, die von jener nur intuitiv erfasst werde; die erste Sicht geht zurück auf H. Lüdtke3 mit Blick auf die Schwierigkeit (a) der Segmentierung von Diphthongen und Affrikaten, wobei dem Phonem kein physikalisches Korrelat entspreche, weder ein artikulatorisches, akustisches, noch ein auditives (so auch Trubetzkoy), z.B. Schwierigkeit der Segmentierung z.B. [ts], [dz], [ʧ], [ʤ] [phonetisch-phonologische Transkription laut Hrsg. nach API]; (b) die Unmöglichkeit der Synthese der Stimme aufgrund von künstlich erzeugten Phonem-Segmenten und (c): dass das Alphabet eine phönizisch-griechische Erfindung sei. Diese Argumente seien weder historisch noch theoretisch annehmbar; (c): Verweis auf die altindische Schrift, die auch alphabetisch sei, mit der semitisch (aramäischen), aber nicht mit der griech. Schrift zusammenhänge; es stimme nicht, dass man hier keine Anzeichen für einen intuitiven Phonembegriff erkennen könne, altindisch würden nicht unterscheidende Züge, sondern Phoneme geschrieben: z.B. ist der Unterschied zwischen k – g, p – b, t – d jeweils derselbe, die Zeichenpaare sind jedoch bis auf jeweils einen Zug keineswegs identisch, und das, was jeweils das Zeichen für stimmhaft – stimmlos differenziert, ist in den drei Fällen dasselbe; zu (b): Lüdtkes Argument der Synthese

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gilt nicht für alle Fälle, sondern nur für jene, wo Phoneme in bestimmten Segmenten nicht realisiert werden. Die Versuche von Trubetzkoy, auf die sich Lüdtke bezieht, betreffen nur bestimmte Konsonanten-Nexus wie [pl], [kr]. Lüdtkes Einwand gilt z. B. nicht für jegliche Vokale oder konsonantische Kontinua wie [s], [z], [r], [f]. [v] —man könne deren Aussprache lernen, ohne Zerlegung in unterscheidende Züge. Zweitens geschehe diese Synthese immer wieder und habe nichts Merkwürdiges an sich, etwa beim Lesen des Geschriebenen; so würden meist Phoneme als Einheiten gelesen, aber immer Laute produziert, auch in neuen Wörtern wie Tom [to:m] gegenüber Ton oder Bom [bɔm] zu Bonn; die Grundannahme Lüdtkes und anderer Kritiker der Phonemtheorie sei falsch (25), sie bedeute eine Verwechslung von Phonem und Laut, wie Lüdtkes Satz: “Die klassische Phonemtheorie beruht —ebenso wie die Lehre der Junggrammatiker— auf folgender Voraussetzung: Der kontinuierliche Redestrom (chaîne parlée) gliedere sich in eine Abfolge kleinster Zeitsegmente (die von den Junggrammatikern als “Laute”, von den Strukturalisten als “Phoneme” bezeichnet werden), was völlig falsch sei: Kein Strukturalist nehme an, dass sich der Redestrom in Phoneme gliedere, diese seien funktionelle Einheiten der Sprache, nicht lautliche Einheiten der Rede. Auch sei laut Lüdtke “Lautsegmentierung” keine Phonemsegmentierung; es sei ein völlig anderes Problem, wie ein Phonem realisiert würde, die meisten Phonologen behaupteten auch nicht, dass einem Phonem unbedingt ein Lautsegment entsprechen müsse, obwohl dies meistens der Fall sei. Zur Abgrenzung von Segmenten und Phonemen: a) ein bestimmtes einheitliches Segment kann einem Phonem entsprechen, oder b) mehrere Segmente können einem Phonem entsprechen, z.B. /ts/, /ʧ/, /a w/,, /ai/; c) ein Segment kann mehreren Phonemen entsprechen, z.B. wird in amerik.- engl. party das /r/ in der Modifizierung des /t/ realisiert: [̍pɑɽdῑ], oder dasselbe Segment kann verschiedenen Phonemen entsprechen, wenn z.B. engl. derby als [̍dɑ:bῑ] realisiert, im Bewusstsein der Sprecher aber auch [̍dǝ:bῑ] existiert, so sind eigentlich in beiden Fällen /ǝ/ und /ɑ/ impliziert, obwohl immer nur eines der Phoneme tatsächlich artikuliert wird, auch können völlig verschiedene Lautsegmente einem einzigen Phonem entsprechen, z.B. [s] – [h] – [ç] –[z] im amerik. Spanisch, [s] wird je nach Kontext unterschiedlich ausgesprochen, im Auslaut unterschiedlich [s] oder [h], vor stimmlosem Okklusiv [ç], vor stimmhaftem Konsonant [z]. (25/6) Lüdtkes Artikel führe aber auch zu einem positiven Ergebnis: Phoneme seien nicht einfach mit Lautsegmenten gleichzusetzen, Phoneme seien keine Lautsegmente; auch die Phonemtheorie nehme nicht an, dass Phoneme einem 1:1- Verhältnis entsprechen.

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1.2 Die Entwicklung des Phonembegriffs (31-34): Ausgangspunkt ist die Frage: Wenn es also Phoneme gibt und wenn sie nicht materielle Laute sind, was sind sie dann? Was ist ihre “Realität”? Für Coseriu geht es hier um verschiedene Auffassungen von Phonologie, 4 so die von B. de Courtenay (1893) eingeführte Idee von zwei phonischen Wissenschaften Psychophonetik und Physiophonetik, und zwei Arten der Transkription, der psychophonischen und der physiophonischen. (32) Die Abhängigkeit der verschiedenen Vorläufer zur Phonemtheorie von Courtenay wird skizziert5 → M. H. Kruszewski → T. Benni und andere polnische Linguisten → L. Vl. Ščerba (1911), der Einfluss auf Daniel Jones (1919) ausübte, wie überhaupt England in der weiteren Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt habe; zur Geschichte der Phonologie in Nordamerika vgl. E. Sapir (1921/1923/1933) und L. Bloomfield, der das Phonem als “a minimum unit of distinctive sound-feature” definierte.6

2 Der Prager Linguistenkreis (35-38): Der Cercle Linguistique de Prague wurde 1926 von Trubetzkoy, Jakobson und Karcevskij gegründet; die Autoren legten ihre Thesen 1928 auf dem 1. Linguistenkongress in Den Haag vor, sie wurden 1929 im 1. Band der Travaux du Cercle Linguistique de Prague (TCLP) veröffentlicht, 1931 in Band 4 der TCLP. In den Thesen von 1928 erscheint keine Definition des Phonems, es wird nur gesprochen von der “Rolle der Sprachlaute im phonischen System einer Sprache" und den “différences significatives” zwischen den Sprachlauten, gegenüber den “différences extragrammaticales”; Diese werden als “kombinatorische” oder “stilistische différences” ausgegeben, letztere als “relevant de systèmes fonctionnels différents”. In den “Thèses” wird die phonologische Problematik nur kurz dargestellt und die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen “le son comme fait physique objectif, comme représentation et comme élément fonctionnel” hervorgehoben, drei Begriffe, die unterschieden werden: a. der Laut als physische Erscheinung, b. der Laut als Vorstellung, c. der Laut als Element eines funktionellen Systems: die Laute als physische Erscheinung könne man nicht mit den “valeurs linguistiques” gleichsetzen, während die Lautvorstellungen ihrerseits Elemente eines Sprachsystems nur in dem Maße seien, in dem sie in diesem System eine bedeutungsunterscheidende Funktion

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hätten. Das Phonem als funktionelle Lautvorstellung wird in den “Thèses” (1929: 10-11) indirekt definiert:

Il faut caractériser le système phonologique, c’est-à-dire établir le repertoire des images acoustic-motrices les plus simples et significatives dans une langue donnée (phonèmes).

Diese Definition beruht auf der Linie von B. de Courtenay, aber mit der Unterscheidung “Phonem” / “Morphem”, während Courtenay dies als Einheit der Alternation sehen würde, z.B. poln. noga ‚Bein, Fuß‘ – nóg [nuk] (Gen. Pl., ‚der Beine, Füße‘, ebenso dt. Wald [valt] – Wälder, wo in beiden Fällen, trotz Lautunterschied [t] – [d] – das Phonem /d/ vorliege. Dagegen handelt es sich in den “Thèses” um ‚ein aus zwei oder mehr Phonemen bestehendes komplexes (Laut-)Bild, wobei die Phoneme innerhalb des gleichen Morphems je nach den Bedingungen der morphologischen Struktur gegeneinander ausgetauscht werden können‘, z.B. russ. ruka ‚Hand‘ – ručnoj (Adj. zu ‚Hand‘) ‚Hand- ‚ das Morphem ist /k/ʧ/, nicht /k/! Endlich ist für Trubetzkoy die Phonetik, im Gegensatz zur Phonologie, eine Naturwissenschaft, während letztere die Phoneme oder Lautvorstellungen zum Gegenstand habe und demnach ein Teil der Sprachwissenschaft sei. Jakobson gibt bereits 1929 eine neue Definition des Phonems als die kleinste phonologische, d.h. bedeutungsunterscheidende Einheit einer Sprache. (38)

2.1. Die Kritik Trubetzkoys an früheren Vorstellungen (38-42): z.B. seine Feststellung, dass Phoneme nicht Elemente der Redeakte (parole) seien, sondern des Sprachgebildes (langue); demnach definiert Trubetzkoy (Grundzüge, 41958: 35) die Phoneme als “Gesamtheit der phonologisch relevanten Eigenschaften eines Lautgebildes”, ähnlich wie Bloomfield (1933), der lediglich similarities und differences nennt, während für Trubetzkoy (41958: 37-49) drei Auffassungen zu Phonologie/ Phonemen bestehen: 1. die Phonologie als Psychophonetik, das Phonem als Lautvorstellung, Lautabsicht, Lautbegriff, eine psychische Realität; 2. Phonologie als Teildisziplin der Phonetik, die Phoneme eine “Familie von Lauten in komplementärer Distribution” eine physische Realität; 3. die Phonologie ist das Studium der Laute in der Sprache (langue), eine linguistische, nämlich funktionelle Realität; zur Kritik der drei Auffassungen vgl. Trubetzkoy (41958: 37-41).

2.2. Das Problem der Morphonologie (42-44): B. de Courtenay und Sapir gehen vom Phonem zum Morphem über, ebenso Chomsky, der hier auf Sapir zurückgreift und sogar die “Existenz” der Ebene der Phoneme leugnen will: man habe Verfahren, um das phonetische Bewusstsein festzustellen, aber keine für das morphematische. Könnte man sagen, dass Franzosen /u/ und /yl/ in Zusammenhang bringen wegen coupableculpabilité, oder /ҷi/ – /ok/ wegen nuitnocturne, oder /ҷi/ – /yk/

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wegen fruitfructifère oder /ã/ – /ɛ̃/ wegen languelinguistique etc.? Geht die ‚Grenze‘ hier zu weit, wo aber liegt sie im morphonematischen Bewusstsein des Zusammenhangs zwischen /vǝn/, /vjɛ̃/ und /vɛ̃/ in venez!viens!(elle) vint? Die Gleichsetzung phonemat. = morphonemat. Bewusstsein habe auch zum Verkennen der phonemat. Ebene geführt. So führt Chomsky (Chomsky, Noam & Morris Halle 1968) für den Übergang im Englischen Beispiele von seiner “systematisch phonemischen” (morphonematischen) Ebene zu seiner “systematisch phonetischen” (der Realisierungsnorm) an, z.B. [s, z] + [i, y] > [[ʃ, ʒ] im Kontext – Vokal: [ladzik] logic / + -ism > [ladzisizm] logicism / + [jm] > [ladziʃm] logician, auch [dilajt#d] delighted > dilajDid]. Da Chomsky nur über das ‚sehr einfache‘ Instrument der Pfeile und nur über den Begriff “wird zu” verfüge, verwechsele er hier zwei völlig verschiedene Operationen, nämlich die Alteration (logiclogicismlogician) und die Realisierung [dilajt#d] > [dilajDid]; im Beispiel logic + -ism wird /k/ nicht zu /s/ und /s/ nicht zu /ʃ/, sondern sie werden durch /s/ bzw. /ʃ/ ersetzt; im anderen Beispiel wird /t/ nicht zu [d], sondern es wird so realisiert, also keine phonematische Ersetzung, sondern eine Realisierungsvariante von /t/; die Beispiele logic, delighted gehören zur Ebene der “systematischen Phonetik”, d.h. der Realisierungsnorm, aber /s/ und /ʃ/ sind als funktionelle Einheiten Phoneme im Englischen, dagegen nicht [D]; laut Chomsky sei diese “Information” auch in seinem System gegeben —was aber inkohärent bzw. sophistisch ist, denn sie gilt in einer expliziten Grammatik als gegeben, wenn der Leser sie nicht erst deduzieren muss. (44)

2.3 Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems (45-51): Auch die physikal. Auffassung des Phonems wurde von ihm kritisiert, so wäre ein Phonem gemäß einer ersten Definition von Jones (Jones & Perera 1919, 2) “eine Familie oder Gruppe von akustisch bzw. artikulatorisch verwandten Sprachlauten, die nicht in derselben Lautumgebung auftreten können.” Somit würde die Rede aus Sprachlauten und Phonemen bestehen: in dt. Wiege —Beispiel Trubetzkoy (Grundzüge, 41958: 38)— wären v, i, ǝ Sprachlaute, weil sie keine hörbaren Varianten aufwiesen, /g/ dagegen ein Phonem, weil /g/ in anderen Lautumgebungen anders laute, z.B. vor /i/ und [ǝ] palataler wie dt. Gier, Wiege, aber vor /o/, vor allem vor /u/, stärker velar realisiert werde, etwa Gong, gut [vgl. Hrsg., S. 45]. Es gebe auch fakultative Varianten, “die einander ersetzen können ohne die Wortbedeutung zu verändern”, z.B. dt. [v] und [β] oder [r] und [ɹ] in verschiedenen Sprachen, auch im Dt. Die Familien solcher Laute nennt Jones “Diaphone”, die Rede würde also aus Sprachlauten, Phonemen und Diaphonen bestehen. Da sich später experimentell herausstellte, dass kein Laut der Rede völlig identisch mit einem anderen ist, dass also alle Sprachlaute Diaphone

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wären, musste Jones das Phonem als “Familie von nicht vertauschbaren Diaphonen” auffassen; dazu Trubetzkoy (45):

1. Jones nimmt zwei Abstraktionsstufen an, vom konkreten Laut zum Sprachlaut (Diaphon) aufgrund der akustisch-artikulatorischen Ähnlichkeit und zweitens vom Diaphon zum Phonem aufgrund der komplementären Distribution, d.h. dem Nicht-Vorkommen in derselben Lautumgebung. Die Kriterien sind aber allzu verschieden, so dass es sich nicht einfach um zwei Stufen desselben Abstraktionsprozesses handeln kann.
2. Der Begriff “konkreter Laut” sei allzu unbestimmt, denn konkrete Laute gebe es nur als Realisierungen von Phonemen.

Trubetzkoys Kritik ist zwar berechtigt, berücksichtigt aber nicht, dass die Auffassung von Jones in sich widersprüchlich ist, da er Grundlage und Folge verwechselt. Die Folge, die Existenz einer “Familie von Lauten”, nimmt er als Grundlage an. Jones möchte aber zwischen dem, was ein Phonem ist, und dem, was es tut, unterscheiden: es ist eine Familie von Lauten, es unterscheidet sprachliche Formen. Die “Familien von Lauten” existieren nicht unabhängig von ihrer Funktionalität, die physische Ähnlichkeit ist ein absolut unzulängliches Kriterium, sie existieren wegen der jeweiligen Funktion, nicht umgekehrt. (46) Weiter: B. Malmberg unterscheidet zwischen allgemeinen außerphonol. Fakten und solchen, die eine bestimmte Sprache charakterisieren, z.B. die span. Vokale im Auslaut seien lang; /r/ werde frz. und dt. als das [ɹ], ital. und span. als linguales [r] realisiert; span. /b/ erscheine je nach den Normen der Sprache als [b] oder [β]; span. /e/, /o/ entweder als [e] wie in queso, cabeza oder [ε] wie in papel, afecto ausgesprochen bzw. [o] wie in llamó, boda, eposa gegenüber [ɔ] wie in rosa, hoja, dogma; /ʃ/, /ɲ/, /ʎ /, /ʦ/ und /dz/ werden im Ital. immer lang, ohne Opposition ausgesprochen. (49) Laut Hrsg. geht es hier auch um Coserius Unterscheidung (1952) zwischen System und Norm.7 Die übliche Aussprache sei zwar nicht funktionell (System), betreffe aber die Norm bzw. das, was traditionell zur “Sprache” gehört, auf keinen Fall das Individuelle, Okkasionelle; so würde diese Unterscheidung “System” / “Norm” die Schwierigkeiten lösen, die bei Phonologen wegen der beiden Begriffe Saussures “langue” und “parole” ergeben hätten. Bei ihm ist “langue” einerseits eine “soziale Einrichtung”, andererseits ein funktionelles System. Die Tatsache, dass die Rede sehr viel mehr Fakten umfasst als die Norm, und die Norm mehr Unterscheidungen als das System, erscheint schematisch als {Rede [Norm [System]]} (vgl. Schema S. 50). Andererseits umfasst das

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System sehr viel mehr Möglichkeiten, etwa kreativ über die Norm hinauszugehen, aber auch Möglichkeiten, die in der Norm gar nicht genutzt werden. Die Norm umfasse viele Möglichkeiten, die ein Individuum beim konkreten Sprechen gar nicht ausnutze, aber auch weniger, als das System ermögliche. Auch die Norm könne in dem Sinne als “funktionell” betrachtet werden, insofern sie die Sprecher als Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft charakterisiert, z.B. nach ihrer Aussprache des Phonems /x/ als [ç] vor /e/ und /i/ im span. Sprachraum die Chilenen, oder [ś] im Gegensatz zu [s] den Kastilier usw.

2.4 Auswirkungen der Unterscheidung System – Norm (51-53): a.) Unter Umständen ist es unmöglich, mit dem System allein zu sprechen, so ist im Deutschen /b/ als oraler, bilabialer, stimmhafter Konsonant auch als solcher aussprechbar, normgerechtes [b] in einer Zone neben [β] als regionale oder situationsbedingte Aussprache (Müdigkeit) denkbar, nicht aber im Spanischen; /b/ als orales, bilabiales, stimmhaftes Phonem sei nur realisierbar, man unterscheide zusätzlich zwischen Norm- [b] oder [β]: [b] kann nicht intervok. vorkommen, [β] nicht im absoluten Anlaut oder nach [m], beide stehen in kombinatorischer Distribution; b.) Phonematisch ließe sich dt. /an/, frz. /ɑ̃/, it., span., rum., okz., kat. /an/, port. /ã/ als /a/ + N deuten, tatsächlich wird die Verbindung dt. [an] wie in Bande, frz. [ɑ̃], port. [ã] wie in bande, banda ausgesprochen, ohne Nasalkonsonanten, in den übrigen roman. Sprachen aber etwa [aãn], wie it. banda, ein Übergang von oralem zu leicht nasaliertem /a/. Oft sei die Sprachentwicklung historisch nicht verständlich, würde die Realisierungsnorm nicht berücksichtigt: so wurde im Span. die Opposition /ts/ – /s/ – /ʃ/ in Richtung /θ/ – /s/ – /x/ weiterentwickelt, weil das /s/ mit seiner dorso-alveolaren Aussprache [ś] mit /ʃ/ verwechselt werden konnte und die Oppositionsglieder so nach /θ/ bzw. /x/ verschoben wurden, z.B. tijeras ‚Schere‘ cogecha (52); oder: Was in der einen Sprache zum System gehört, kann in anderen zur Norm gehören und natürlich umgekehrt, z.B. ein und demselben System können verschiedene (z.B. regionale) Normen entsprechen, so ist span. /x/ = [x] in Spanien, in Peru; [h] vor [e, i] in der Karibik, Mexiko; [ç] vor [e, i] in Chile. (53)

3. Kritik an Trubetzkoy (55-59): Für ihn gehören die Phoneme zur Phonologie, eine Disziplin der Sprachwissenschaft und die Varianten zur Phonetik, einer Naturwissenschaft, er unterscheidet aber nicht zwischen allgemeiner Phonetik und Phonetik einer Sprache, Bloomfield dagegen zwischen “phonetics” als allgemeiner Phonetik und “phonology” “practical phonetics” als Phonetik mit Bezug auf eine Einzelsprache. Trubetzkoy vertritt drei verschiedene Auffassungen zur Phonologie: 1. als Wissenschaft der Laute im Sprachgebilde, hier bleibt nur das Individuelle und Okkasionelle außerhalb der Phonologie, 2. als

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Wissenschaft der funktionellen phonischen Oppositionen, sowohl der objektiv distinktiven als auch der “stilistischen”, womit die Phonetik das Nichtfunktionelle untersucht, 3. als Wissenschaft der distinktiven Oppositionen —das Adjektiv “phonologisch” entspricht dieser dritten Auffassung; in diesem Sinne gibt es keine Entsprechung zwischen “Phonologie” und “phonologisch” (Wijk 1939; Malmberg 1954, 105-106); hierbei gehört alles, was den Oppositionen entspricht, d.h. alle Varianten, der Rede als auch der Norm, zur Phonetik. Bei dieser Sicht müssten in bestimmten Fällen dieselben Fakten derselben Sprache einmal zur Phonologie, d.h. zur Sprachwissenschaft, ein anderes Mal zur Phonetik, damit zur Naturwissenschaft gehören, z.B. dass die Opposition /e/ – /ε/ in clef ‚Schlüssel‘ – claie ‚Geflecht‘ als Phonem wirke, aber (il/elle) i>sait ‚(er/sie) weiß‘ als [se] bzw. [sε] (veraltet) dagegen Varianten seien und keine Opposition, sondern nur ein phonetischer Kontrast.

3.1. Form und Substanz – artikulatorische oder auditive Phonetik (56-58): Da laut Coseriu (1954) das Morphische im Hyletischen, d.h. die Form in der Substanz feststellbar sei, würde Aristoteles bei den Formen des Seins und des Werdens zwischen Morphé (μορή) ‚Form‘ und Hyle (ὕλη) ‚Stoff, Materie, Substanz‘ unterscheiden [Hinweis Hrsg. 56, Anm. 13]. Um welche ‚Substanz‘ handelt es sich hier? Die Stofflichkeit der Phoneme lässt drei Interpretationen zu: a. eine akustische (betrifft die Stelle und Art der Erzeugung der Laute), b. eine akustische (operiert mit den objektiven Kategorien der Akustik, z.B. Messungen der Tonfrequenz), c. eine auditive (der Beschreibung der Phoneme geht auf die Art der Wahrnehmung durch das Gehör zurück (Saussure: “image accoustique”; Lautbeschreibung z.B. “hell – dunkel”, “tief” – “hoch” usw.). Die akustische Darstellung ist eine rein objektive und naturwissenschaftliche Darstellung, kann aber nur zusätzlich zu einer linguistischen Beschreibung angewandt werden, problematischer erscheint die Frage nach einem Vorrang von a. gegenüber c.

3.2. Form und Substanz in der Glossematik (58/9): Gegenüber dem Plerem, das sich auf die inhaltliche Seite der Sprache (Morphem) bezieht, setzt die Glossematik das Kenem (als inhaltlich leeres Zeichen) in zwei Substanzen/ Stoffen, als Phonem und als Graphem. Solche Plereme (kleinste bedeutungstragende Einheiten ohne Ausdrucksseite) und Keneme (kleinste Laut- und Schriftzeichen ohne Bezug zu einer Funktionalität) gibt es aber nicht in Wirklichkeit, nur auf abstrakter Ebene. So ist die Schriftsprache, von der gesprochenen Sprache gelöst, wie z.B. im Frz., eine teilweise andere Sprache. Hjelmslev nimmt eine phonematische Schrift an, bei der die Substanz gleichgültig ist, womit die Entsprechung zwischen Phonem ← Kenem → Graphem vollkommen wäre (59) —was aber ein reines

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Konstrukt ist, da Grapheme auch andere Züge tragen, nicht nur solche, die Phoneme darstellen und das Lautsystem auch andere, nicht nur graphematisch dargestellte Züge hat. So kennt das geschriebene Frz. Morpheme wie -s, die dem gesprochenen Frz. unbekannt sind; es kennt die liaison, die der geschriebenen Sprache unbekannt ist, d.h. die gesprochene Sprache kennzeichnet gewisse mots phonétiques lautlich als grammatisch zusammengehörige Einheiten wie les enfants [lezɑ̃fɑ̃]: ‚Man müsste eigentlich zwei verschiedene Grammatiken schreiben‘.

4. Die Darstellungsfunktionen der Sprache nach Trubetzkoy (61-84): Wie Trubetzkoy (Grundzüge, 41958, 17-29) die von K. Bühler (Sprachtheorie, 1934) unterschiedenen sprachlichen Funktionen in seine eigene Darstellung einfügte, Kundgabe (Ausdruck) – Appell (Auslösung) und Darstellung. Laut Hrsg. erklärt Coseriu solche Termini meist nicht, setzt sie als bekannt voraus; so gehöre Bühlers Organonmodell der Sprache zum Pflichtprogramm klassischer Einführungen in die Sprachwissenschaft. Schon nach Platons Dialog “Kratylos” sei Sprache ein Werkzeug (órganon), mit dem der Mensch mittels sprachlicher Zeichen einem anderen etwas über die Dinge (die außersprachliche Welt) mitteilt. Dabei ist das Zeichen vom Sender (Sprecher) her gesehen Ausdruck (z.B. seine Einstellung zum Geäußerten, Freude, Verwunderung), in Bezug auf den Empfänger (Hörer) Appell (zu reagieren, z.B. mit einer Antwort), in Bezug auf die geäußerten Gegenstände ist es Darstellung, der Inhalt des Geäußerten. [Hrsg. 61, Anm. 15]

4.2. Darstellungsphonologie (69-84): Trubetzkoy (41958: 29) unterscheidet drei phonologische Funktionen innerhalb der Darstellungsfunktion der Sprache: 1. Gipfelbildende/ kulminative Funktion, 2. Abgrenzende/ delimitative Funktion, 3. Bedeutungsunterscheidende/ distinktive Funktion (auch “diakritische Funktion”); Coseriu fügt anstelle der dritten eine neue, die konstitutive Funktion hinzu, 3. wird zu einer vierten Funktion; Funktion 1. besteht darin, dass gewisse Schalleigenschaften angeben, wie viele Ausdruckseinheiten in einer Äußerung enthalten sind. Diese Einheiten können Wörter oder Wortverbindungen sein, eine Funktion, die im Deutschen die Hauptbetonungen (Akzente) der Wörter erfüllen; 2. bedeutet, dass gewisse Schalleigenschaften morphische Einheiten der Sprache voneinander abgrenzen. Diese Einheiten fallen nicht unbedingt mit der durch die kulminative Funktion aufgezählten zusammen, es können solche Einheiten sein und dazu noch kleinere, also Wortverbindungen, Wörter und Morpheme.

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4.2.1 Die bedeutungsunterscheidende und konstitutive Funktion (69-74): Erstere ist die hauptsächliche phonologische Funktion, die laut Trubetzkoy (ibid.) darin bestehe, dass gewisse Schalleigenschaften “die einzelnen mit Bedeutung versehenen Einheiten voneinander trennen.” Diese Formulierung —nicht der Gedanke, der dahintersteckt— ist irreführend: 1. die distinktiven phonischen Einheiten, an erster Stelle Phoneme, auch suprasegmentale Einheiten wie Akzente und Toneme, unterscheiden zwar “Einheiten mit Bedeutung”, aber nicht auf beiden Ebenen der Sprache, Ausdruck und Inhalt, sondern nur auf der Ausdrucksebene, d.h. sie unterscheiden signifiants. Diese können aber in funktioneller Hinsicht polysem sein, d.h. sie können verschiedenen inhaltlichen Einheiten entsprechen, was homophone Zeichen mit verschiedenen Inhalten, jedoch mit demselben signifiant betrifft, z.B. dt. /band/, d.h. ‚(der) Band‘, ‚(das) Band‘, ‚er/sie/es) band‘ oder frz. /so/, d.h. ‚sot‘, ‚seau‘, ‚sceau‘ usw. —das heißt, einem signifiant entspricht eine Klasse von signifiés. Diese Klasse kann aus einem einzigen Glied bestehen, aber auch aus mehreren; 2. eine Einschränkung der Formulierung “hat bedeutungsunterscheidende Funktion mit Ausnahme der phonologischen Variation”, da auch diakritische Einheiten sich in freier Variation befinden können, z.B. dt. benutzenbenützen, meistensmeist, auch fragtfrägt; ital./ rumän. ist der Wortakzent funktionell, it. canto ‚ich singe‘ – cantò ‚(er/sie/es) sang‘, rum. declară [de'klarɐ] ‚(er/sie) erklärt‘ – declara [dekla'ra] ‚(er/sie) erklärte‘, während it. édile/ edíle, sèparo/ sepáro ‚ich trenne‘, rum. ántic/ antíc ‚antik‘ frei variieren; 3. eine weitere Präzisierung: diakritische Einheiten gibt es nicht im Einzelfall, sondern in der Sprache, d.h. im Sprachsystem; damit etwas eine diakritische Einheit ist, muss diese Einheit grundsätzlich in der Sprache unterschieden werden, also in Fällen, in denen die betreffende Einheit den einzigen Unterschied gegenüber einer anderen diakr. Einheit macht, z.B. it. /'kasa/ – /'kosa/ ['kɔsa], aber nicht /kas:a/ – */kos:a/, da in diesem Fall die Ersetzung von /a/ durch /o/ zu nichts führen würde, zu keiner existierenden Form cassa – *cossa; 4. zu Coserius (neuer) dritten Funktion, wonach die diakritischen Einheiten nicht in jedem konkreten Fall distinktiv sind: einem Wort stehen nicht alle die möglichen Wörter gegenüber, die sich von diesem Wort nur durch ein einziges Phonem unterscheiden würden, z.B. /le- e- z- e- n/; trotzdem bilden die Phoneme /l – e –z – e – n / in der Kombination als ['lezǝn] oder ['lezn] realisiert, das dt. Wort lesen, dem kein anderes dt. Wort gegenübersteht, außer Besen, Thesen, Wesen, mit dem es ein Minimalpaar bilden würde. Diese Funktion ist die Grundlage der diakritischen Funktion, die Phoneme sind konstitutiv und dadurch diakritisch gegenüber all den möglichen signifiants; zu

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den weiteren Begriffen, jeweils mit Erklärung/ Skizzen der betreffenden gipfelbildenden/ delimitativen Funktionen, der positiven/ negativen Grenzsignale. (74ff.).

5. Die Klassifikation der Oppositionen (85-93): Trubetzkoy (41958: Kap. III) gliedert die Oppositionen 1. nach ihrer Beziehung zum Oppositionssystem als eindimensional und mehrdimensional. Die Beziehung ist eindimensional, wenn die Vergleichsgrundlage nur beiden Gliedern einer Opposition gemeinsam ist, so z.B. haben nur dt. /t/ – /d/ das Merkmal ‚dentaler Verschlusslaut‘ gemeinsam, sie ist mehrdimensional, wenn die Vergleichsgrundlage auch anderen Einheiten gemeinsam ist, so z.B. dt. /d/, /b/, /g/ – ‚stimmhafter Verschluss‘. Viel häufiger sind mehrdimensionale Oppositionen, als eindimensionale, es gibt nicht nur binäre, sondern auch Beziehungen mit drei und mehr Gliedern, z.B. span. b → p / → f, p → f; dabei ist die Labialität die Grundlage, Stimmhaftigkeit – Stimmlosigkeit (Stimmbeteiligung) das zweite Kriterium; innerhalb der stimmlosen Glieder ist die Artikulationsart die dritte Art von Beziehung: b – stimmhaft→ /p – f stimmlos → Okklusiv / Frikativ. Mehrdimensionale Beziehungen können laut Trubetzkoy homogen oder heterogen sein, homogene geradlinig oder ungeradlinig; 2. Einteilung der Oppositionen nach der Beziehung zwischen den Oppositionsgliedern (Trubetzkoy 41958, 66-80), wobei rein logische Beziehungen entstehen, die nicht an ein bestimmtes Sprachsystem gebunden sind, aber auch innerhalb eines solchen betrachtet werden: a. Privative Oppositionen (bei denen das eine Glied ein Merkmal hat, das dem anderen fehlt); b. Graduelle Oppositionen (verschiedene Grade derselben Eigenschaft), z.B. Öffnungsgrad der Vokale: /e/ ist offener als /i/, /a/ ist offener als /e/ usw.; c. Äquipollente Oppositionen: beide Glieder sind logisch gleichberechtigt, z.B. dt. /p/ – /t/ bzw. /f/ – /k/; diese sind die häufigsten, vor allem in der Grammatik oder in der lexikalischen Semantik gibt es Systeme, die durch graduelle/ äquip. Oppositionen gestaltet sind. (87) Eine weitere Einteilung kennt konstante Oppos., die das Ausmaß der ihrer Gültigkeit betreffen, oder aufhebbare, wie z.B. frz. /e/ – /ε/, mit Tendenz zur Öffnung des traditionellen /e/ [e] in Verbformen wie i>je parlerai – je parlerais; je parlaije parlais, die zu Homophonie führen. (87f.)

5.2. Neutralisierung (89-91): z.B. findet sich die Aufhebung der Opposition stimmhaft / stimmlos im Auslaut nicht nur im Deutschen, sondern auch im Russischen und im Katalanischen; Neutralisierung wurde zu einem wichtigen Begriff der deskript. wie auch der histor. Linguistik und werden in der Grammatik wie auch in der strukturellen lexikalischen Semantik verwendet. Von Synkretismus spricht man dagegen, wenn ein Unterschied, der für eine Sektion des Systems gilt, in einer anderen nicht gemacht wird: so z.B. sind /r/, /l/, /n/ und /m/ in vielen Sprachen nur stimmhaft und deswegen als ein Phänomen des Synkretismus

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anzusehen, da die Unterscheidung stimmhaft / stimmlos an anderen Stellen des jeweiligen Systems, z.B. bei Okklusiven, Frikativen und Affrikaten aber gilt.

5.3. Der Binarismus in der Phonologie und in der strukturellen Linguistik (91-93): Hinweis auf den Beginn der Prager Phonologie, wobei die unterscheidenden Züge meistens als artikulatorische Eigenschaften, nicht unbedingt nach einem Ja-Nein-Schema beschrieben worden seien. Der für die strukturelle Linguistik typische Binarismus geht dagegen von jeweils entgegengesetzten Eigenschaften aus, die entweder positiv oder negativ, also vorhanden sind oder nicht. Dieser Binarismus als Prinzip wurde zuerst von Jakobson (1939) in Zusammenarbeit mit Halle (R. Jakobson & M. Halle 1957) als Katalog von zwölf Paaren entgegengesetzter Eigenschaften entwickelt, z.B. I. vokalisch/ nicht-vokalisch; II. konsonantisch/ nicht-konsonantisch; IV. kompakt, mit größerer Energiekonzentration / diffus, mit geringerer Konzentration, d.h. im hinteren Mund erzeugt, z.B. /η/, /k/, /g/, /a/ ↔ im vorderen Mund (artikulatorisches Merkmal), z.B. /m/, /p/, /b/; /E/, /o/, /i/, /u/; abrupt, d.h. okklusiv, frikativ, /r/; VI scharf/mild, d.h. mit Geräusch hoher Intensität / mit niedriger Intensität oder ohne Geräusch, z.B. /s/ - /θ/, /dz/ - /d/, /ʤ/ - /g/, /pf/, /ts/ - /p/, /t/ z.B. dt.


II: Romanische Phonologie (95-210): 1 Zielsetzung und Grundsätze (97-100): Erkenntnisse der Phonologie sollen auf die (romanische) Sprachgeschichte angewendet werden, unter Berücksichtigung bekannter Arbeiten wie die von Martinet (1955), Haudricourt-Juilland (1971), A. Alonso (1967-1969), Alarcos Llorach (1961), Diego Catalán (1974), H. Lüdtke (1956) oder H. Weinrich (1958), weniger dagegen die sogenannten phonologischen Erklärungen, als die Fakten selbst: nicht die Tatsache, dass /k/ vor /e/, /i/ zu /ʧ/ wird ist interessant, sondern dass das Merkmal ‚palatal‘ funktionell wird; lat. /k/ konnte in dieser Stellung auch [k'] oder später häufiger [ʧ] ausgesprochen werden, immer noch Varianten des Phonems /k/; Ital. wurde daraus ein eigenes, von /k/ getrenntes Phonem /ʧ/, das es als Einheit des Konsonantensystems vorher nicht gab. Was geschieht: /k/ vor /a/, /o/, /u/ bleibt /k/, wie auch /w/ im Nexus /kw/, so lat. quis > it. chi ‚wer?‘, dann aber palatalisiert und wird über [k'] > [t'] zu [ʧ]: cervu(m) > it. cervo, cerebellu(m) > cervello, ciconia > cicogna usw. So erklären sich die Veränderungen im span. Lautsystem im Siglo de Oro bei phonol. Interpretation hin zum Ceceo bzw. Seseo. Coseriu will auf die praktische Anwendung der Ergebnisse aus der Phonologie achten und beantworten, welche Unterschiede beim Erlernen einer romanischen Sprache bezüglich der Aussprache zu beachten sind, so etwa gilt es die “hässliche” Aspiration von /p/, /t/, /k/ der deutschen oder englischen Romanisch-Sprecher zu vermeiden, da das Romanische nicht aspiriert. (98) Dies sei für das gegenseitige Verständnis

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aber nicht entscheidend, dagegen die Sonorisierung von /p/, /t/ /k/ bzw. die Entsonorisierung von /b/, /d/, /g/, was schwerwiegende Folgen für die gegenseitige Verständigung habe, vgl. die frz. Minimalpaare baspas, barpar oder toitdoit usw. Die Vokallänge ist im Frz. wichtig vor den consonnes allongeantes und bei betonten Nasalvokalen vor folgenden Konsonanten wie in tante, grande, monde, lente gegenüber lent, longue [lỡ:g] : long [lỡ], ebenso im Ital., wo sie automatisch bei betonten Vokalen in offener Silbe eintritt (caro, amato, avuto : carro, matto, spento, tutto), aber sie ist kaum funktionell. Auch die Konsonantenlänge ist im Ital. oft funktionell und immer normativ wichtig, ohne geeigneten Kontext sind Aussprachen wie ['spa:la] für spalla ['spal:a] ‚Rücken‘ nahezu unverständlich. Das Fehlen solcher Oppositionen ist dagegen typisch für Span., Katal., Rumän., auch für Neugriech., Russisch oder Bulgarisch. Im Span. ist es normativ wichtig, die intervokal. stimmhaften /b/, /d/, /g/ als [β] [δ] [γ], d.h. als Reibelaute auszusprechen, was funktionell völlig belanglos ist, da es keine phonol. Oppositionen gibt, deren Nichtbeachtung die Verständlichkeit beeinträchtigen könnte —insgesamt ein Ausmaß an Schwierigkeiten beim Erlernen/ Umgang mit einer fremden Sprache, für dt. Romanist:innen in der Romania.

3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen (105-129): Bei dieser Beschreibung einer oder mehrerer historischer roman. Sprachen sind laut Coseriu drei Arten von Unterschieden zu berücksichtigen: diatopische Unterschiede (im Raum, also Dialekte), diastratische (betreffen verschiedene Sprachschichten, Gebildete/ Ungebildete, Männer/ Frauen, Fachsprachen), diaphasische Unterschiede (Vulgärsprache, Argot, bürokratischer Stil, religiöser Stil der Gottesdienste usw.). Aus diatop. Sicht soll nur die jeweilige Gemeinsprache (langue commune) beschrieben werden, die selbst keine Einheit bildet, sondern ihrerseits, je nach Anlass zum Sprechen, dem Adressaten die genannten drei Differenzierungen aufzeigt. Mit Blick auf die Phonologie weist gerade das Frz., aus verschiedenen Gründen, größere innere Unterschiede auf: 1. Aus historischen Gründen habe es viel mehr Pflege zur Grammatik als zur Aussprache gegeben; 2. Wegen der allzu sehr von der Aussprache abweichenden Rechtschreibung habe es einen großen Einfluss der Orthographie auf die Aussprache gegeben; 3. Die allzu starre Fixierung der gehobenen Aussprache habe seit einiger Zeit das ganze System in Bewegung geraten lassen.

3.1 Französisch (107-113): Im “français normal” ist zu unterscheiden zwischen “français central” und “français périphérique” (Bretagne, Nord, franko-provenzalisches Gebiet); Coseriu gliedert Frankreich in die Zonen Bretagne, Midi, Nord, Südosten und Zentrum (108). Das “français méridional” (Midi) ist charakterisiert, so Martinet (1971: 79),

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durch folgende Züge: a) das Vokalsystem ist reduziert auf die Archiphoneme /I, E, Y, Œ, A, O, U/; b) es gibt keine Nasalphoneme, d.h. keinen Unterschied zwischen vokalischen Nasalphonemen und einer Abfolge /A/ + /n/, /m/; /O/ + /n/, /m/ usw.; c) Bewahrung von silbenauslautendem -[ǝ], realisiert als Variante von /Œ/, z.B. je me dis, je me le demande, sogar in calepin würde das im Süden in 63% der Fälle realisiert. Das Frz. der übrigen Regionen sei in statistischer Hinsicht ein System, wenn auch bestimmte Regionen durch je eigene Züge charakterisiert seien, z.B. die franko-provenzalische Gegend durch den Zusammenfall von /lj/ und /j/, z.B. soulier, escalier,million als [su'je], [eska'je], [mi'jõ]; laut Martinet ist die Bretagne durch die starke Reduzierung der Quantitätsunterschiede und der heute fast überall geschwundenen Längenunterschiede gekennzeichnet, z.B. zwischen fête ‚Fest‘, bzw. faîte ‚Gipfel‘ und faite (Part. Perf. fem. von faire); sogar das “français central”, von der Lorraine zur Normandie, von der Bourgogne und dem Morvan bis zur Tourraine, habe ein gut ausgeprägtes “français régional”, das sich noch Anfang des 20. Jhdts. durch die Bewahrung funktioneller Quantitätsunterschiede auszeichnete, so auch bei /u/, /y/, /i/ und /e/; so werden Wörter z.B. boue, bue, plie, finie, aimée dort mit langem Vokal, aber bout, bu, pli, fini, armé, aimé dagegen mit kurzem Vokal gesprochen. Statistisch gesehen schwinden diese Züge zugunsten der gemeinsamen Züge eines “français normal”. (109) Trotz aller Schwankungen könne man von einem überwiegend einheitlichen phonologischem System sprechen, zumindest in statistischer Hinsicht; für das “français non méridional” unterscheidet Robert Hall (1948a), der nur das “standard French” berücksichtigt, drei Stufen: archaic, slow colloquial, fast colloquial (z.B. allgemeine Aussprache von [ǝ] im Auslaut, nach anlautenden Konsonanten sowie vor/nach bestimmten Kosonantennexus: [ʒǝsε] für je sais) im Vergleich zu den vier Stufen eines “français populaire” bei H.-W. Klein (1966): a. feierliche Aussprache der Comédie française: [lε, mε, tε, sε] für les, mes, tes, ses; Aussprache aller [ǝ] vor Konsonant; b. Aussprache der Predigt, öffentliche Rede (expressive Vorverlagerung des Akzents, zahlreiche liaisons, Aussprache von Doppelkonsonanz); c. die ungezwungene, aber gepflegte Aussprache der gebildeten Kreise in Paris (die “Normalsprache” ohne besondere Bezüge); d. die nachlässige, populäre Aussprache (Dehnung von vortonigem /ɑ/, /a/: [sɑ:pɛ̃], [gɑ:to], Tendenz zur Schließung von /ε/ zu /e/, z.B. j’avais, billet, jamais usw. (111f.)

3.2 Italienisch (113-129): Vier wichtige Faktoren zur Phonologie bestimmen seine eigene Lage unter den roman. Sprachen: a.) der besondere Status der ital. Dialekte, die lebendiger sind als die in einer anderen roman. Gegend, mit Ausnahme Rumänisch und Rätoromanisch. Es kommt das Prestige der Mundart hinzu, die nicht nur von der unteren,

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sondern auch von der oberen Schicht gesprochen wird; bedeutend ist seit Jahrhunderten das Ansehen der Dialekt-Literatur; b.) die Tatsache, dass sich die ital. Gemeinsprache als Schriftsprache verbreitet hat; das geschriebene Italienisch widerspiegelt nicht in allen Fällen die Aussprache, z.B. nicht den in der Toskana gemachten Unterschied zwischen /s/ und /z/, graphisch nur s oder /ʃ/, /η/, /ʎ /; [ʦ], [ʥ] sind im Inlaut in der Aussprache immer doppelt (lang oder geminiert): pesce ['peʃʃe], bagno ['baɲɲo], foglia ['fɔʎʎa]; da der Vokal so in geschlossener Silbe steht, wird er hier nicht gelängt, die ersteren drei Konsonanten werden aber einfach geschrieben: , , ; das tosk. “raddoppiamento iniziale”, etwa fatto [fat:o], aber andò fatto [an'dɔf:at:o], Roma ['rǝ:ma], aber ɑ Roma [a'r:ɔ:ma], d.h. nach vokalisch auslautender Partikel/ Präpositionen wird der folgende Anlautkonsonant verdoppelt (116; vgl. 124-126). Die wohl interessanteste Erscheinung im Toskanischen (Florentinischen) in intervokalischer Position ist die Reduzierung der Affrikaten /ʧ/ und /ʤ/ zu [ʃ], [ʒ] (pace ['pa:ʃe], fece ['fe:ʃe]; c.) dass das Zentrum dieser Schriftsprache jahrhundertelang Florenz war, wo im Cinquecento die Questione della lingua diskutiert wurde. Florenz war nur kurze Zeit provisorische Hauptstadt (1865-1871), ist aber nicht zugleich die Hauptstadt des Landes, woraus sich der Konflikt bezüglich der Norm - Römisch oder Florentinisch? - ergibt. Unterschiede in der Lautung der Gemeinsprache Rom / Florenz: in Rom wird /s/ auch intervokal. immer als [s] realisiert, es gibt kein /z/, keine Aussprache mit /z/; in Rom werden die Endungen -étti, -étte, -éttero mit geschlossenem [e], in Florenz mit [ε] gesprochen (117); d.) dass der industrialisierte, reichere und Weltoffenere Teil Italiens, also Norditalien mit seinen Großstädten wie Genua u.a. von Hause aus Mundarten spricht, die von der Literatursprache weiter abweichen als die südital. Mundarten untereinander selbst. (119)

3.2.2 Phonologische Schwächen im System des Italienischen (119-126): die Oppositionen /e/ – /ε/ – /o/ – /ɔ/, /venti/ – /vεnti/ – /bot:e/ – /bɔt:e/ usw.; in vielen Fällen ist die florentinische von der römischen Norm verschieden (in der Orthographie sind die betreffenden Vokale mit é, ó geschlossen, mit è, ò offen: Florenz – Rom: allégroallègro, feróceferòce, usw.

3.2.2.4 Die phonosyntaktische Doppelkonsonanz (123-126): Die Längung der Konsonanten, die in der Orthographie nicht auftritt; hierbei ist die Festigkeit des System vor allem regional beeinträchtigt; für intervokalisches /ʃ/, /ɲ/, /ʎ/, das automatisch als langes /ʃʃ/, /ɲɲ/, /ʎʎ/ realisiert wird, gilt: im Norden vereinfacht zu [ʃ], [nj] oder [ɲ], [lj] oder [ʎ], die Toskaner/ Zentralitaliener “hören” wegen Kürze des Vokals trotzdem [ɲɲ] bzw. [ʎʎ]; für sie

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gibt es nach betonten kurzen Vokal kein einfaches [ɲ] [ɲ] [ɲ] oder [ʎ] und [i'ta:lja], nordital. [i'talja], lautet in der Toskana [i'taʎʎa].

3.3 Ein morphonologisches Faktum des Italienischen und Spanischen: die Behandlung der “unbeständigen” Diphthonge (126-129): In beiden Sprachen gibt es in der Formbildung die sog. “diptongos móviles”/ “dittonghi mobili”. Ursprünglich erscheint der Diphthong unter dem Ton, der einfache Vokal in unbetonter Stellung, d.h. wenn dieselbe Silbe in der Flexion oder in der Wortbildung zu einer unbetonten wird, z.B. Ital. nur in offener Silbe, viènivenire, nuòvonovità, span. juegojugamosjugó, piensopensamospensó. Im Span. gibt es keine Alternation mehr in den Diminutivbildungen von Substantiven oder substantivierten Adjektiven wie fuentefuentecita, altspan. noch fontecita regelmäßige Alternation bei den Verben: tienestenemos, mueromorimosmurió; im Ital. dagegen ist die Lage ziemlich klar, was ie betrifft, das [jε:] bzw. [jε] in allen Ableitungen bleibt. Völlig anders die Lage von uo [wɔ:] bzw. [wɔ], wo der Diphthong dem älteren Toskanisch entspricht, das sich in der Schriftsprache verbreitet hat. Aber gerade das Tosk. hat, wie das Römische, den Diphthong zu vereinfacht: nicht mehr uomo, nuovonovissimo sondern òmo, nòvonovissimo, im Süden aber die Neigung, den alten Diphthong beizubehalten. (128)

4 Die Probleme der romanischen Phonologie (131-159): Sie lassen sich in interpretatorische und objektive Probleme gliedern, beide Gesichtspunkte sind kombinierbar, da die Interpretation gerade die objektive Fragestellung betreffen kann. In objektiver Hinsicht geht es 1. um Unterschiede, die nicht von allen Sprechern gemacht werden, 2. um geringe funktionelle Leistung von Oppositionen, deren Glieder zum großen Teil automatisch oder in freier Variation realisiert werden. 4.1.2 Die Vokalquantität (132f.), da laut Martinet (1971) viele Franzosen zu seiner Zeit boutboue [bu] – [bu:], finifinie [fini] – [fini:] mit unterschiedlicher Vokallänge aussprachen, gab es verschiedene phonologische Interpretationen, z.B. bei Helmslev (Bulletin, 1948/9) als V + /ǝ/, was mit Martinets Auffassung übereinstimmt (Martinet 1969b), dass /ǝ/ kein Phonem ist, sondern hier als ein fiktives behandelt wird. (132) 4.1.5 Besonderheiten des frz. Konsonantensystems (136f.): Problematisch ist hier die Interpretation des “h aspiré”, der “Halbvokale” und des /ɲ/: das “h aspiré” wird von Togeby, Hjelmslev, Trager und Hall als Phonem betrachtet, nicht aber von Gougenheim. Für ihn ist es ein Element, das z.B. in le hêtre ‚die Buche‘, le héros, le onze mai ‚am 11. Mai‘ das dem Hiat vorausgehende [ǝ] zu einer “voyelle ouverte” macht; vgl. Hinweis Hrsg. S. 131 auf die 1. Auflage 1972 von Rothes wichtiger Phonologie, die Coseriu in seinen damaligen Vorlesungen zur Phonologie aber nicht berücksichtigt habe.8 Der palatale Nasal /ɲ/ wird von den meisten Autoren als Phonem behandelt, nur Togeby (1951) und Martinet (1960, 73) ordnen [ɲ] als Variante der Sequenz + V ein, da panier auch zweisilbig [pa'ɲe] gesprochen werde; Maurice Grammont (1933) deutet [ɲ] als Kombination /n/ + /j/. (137)

4.2 Interpretationsprobleme im Spanischen (137f.): Fraglich ist hier nur die Bewertung der Diphthonge, der Halbvokale und die Bewertung von /ṝ/. Die Diphthonge sind entweder getrennte Einheiten oder – so bei Alarcos Llorach (1949) – Kombinationen vokal. Einheiten; die “Halbvokale” [j] und [w] erscheinen entweder als Elemente in Diphthongen oder sind Varianten von /i/ und /u/; Hockett (1955) und Llorach betrachten sie als vokalische Varianten von /i/ und /u/, also /j/ in mayo, yodo wäre ein Konsonant, in Diphthongen wie hay, hoy aber vokalische Variante von /i/; der Konsonant /w/, wie in huesca, huerto —nach Martinet ein Phonem— ist für Llorach eine Kombination aus /g/ + /u/. Der im Silbenanlaut als [ṝ]

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realisierte Vibrant /r/ wird als Kombination aus /r/ + /r/ betrachtet, von Llorach als zwei verschiedene Phoneme /r/ und /ṝ/, da es im Spanischen keine Geminaten gibt. (138)

4.3 Interpretationsprobleme im Italienischen (138): Fünf Bereiche —die Frage, ob Diphthonge eigene Einheiten bilden oder nicht— sind [j und [w] in Diphthongen Phoneme oder Varianten von [i], [u] – die Frage, ob /s/ – /z/, die nur im Toskanischen eine bedeutungsunterscheidende Opposition bilden können, zwei Phoneme sind? —das Problem, ob [ʦ] – [dz] zwei Phoneme sind oder eine Kombination aus /t/ + /s/ bzw. /d/ + /z/ ?— Aber sind die langen ital. Konsonanten zwei gleichartige Konsonanten oder eigene Phoneme?

4.4.1 Interpretatorische Unterschiede im Spanischen und Italienischen (139-151): Hier gibt es objektiv weniger Fakten als interpretatorische Unterschiede, die ausschließlich das Frz. betreffen; Ital. und Span. handelt es sich fast immer um regionale oder —im Span.— auch um regional und sozial verschiedene Systeme, man hat einen bestimmten Unterschied, oder nicht: man hat entweder span. /s/ – /ð/ oder nur /ð/, nur /ş/ oder nur /s/, was historisch dem /ð/ entspricht, oder man hat eine Opposition wie Span. /j/ – /ʎ/ oder nur /j/ oder Ital./Tosk. /s/ – /z/, /e/ – /ε/, /o/ – /ɔ/, wobei zu beachten ist, dass derselbe Unterschied nicht immer in derselben Art von Wörtern gemacht wird. 4.4.2 Interpretatorische Unterschiede im Französischen (134-151): zum “e caduc” [ǝ], das im “français non méridional” schwindet, z.B. in CatherineKatrine, je vertrauter dem Sprecher der Gegenstand oder der Name ist. (144) Die alte Quantitätenopposition wie /u/ – /u:/, /y/ – /y:/, /i/ – /i:/ und /e/ – /e:/ führte Martinet in seiner Enquête (1945) auch für Paris auf, statistisch mit Werten z.B. für buboue mit 41%, pritprie 57% usw. (145f.) 4.4.2.4 (146f.): Die Opposition /ε/ – /e/ besteht nur im Auslaut, z.B. je feraisje ferai, j᾿achèteraisj᾿achèterai, aber auch die Tendenz zur Nichtunterscheidung, mit Realisierung [e], z. T. auch [ε]. Sonst ist die Verteilung komplementär, d.h. [e] in offener Silbe (espérer, carrément, réformer, élévation); zu einer harmonisation vocalique, z.B. bei aimer [ε'me]. 4.4.2.6 Die Nasalvokale (147): Gefährdet ist vor allem die Opposition /ɛ̃/ – /œ͂/, z.B. brinbrun, Alainalun ‚Alaun‘; die jungen Leute machten die Unterscheidung mehr als die mittlere Generation. 4.4.2.8 Probleme des französischen Konsonantensystems (149-151): Laut Martinet (1945, 185-187) wird [h] außerhalb von Paris teilweise noch gesprochen. Die Doppelkonsonanz, d.h. die Aussprache geschriebener Doppelkons., wird bei 13% der Befragten ignoriert, von anderen z.T. an der Morphemgrenze beachtet, d.h. langer Konsonant in einigen Lexemen z.B. sonnez 13%, sommet 45%, addition 35%; bei Wörtern wie illogique 81%, irrémédiable 74% gab wohl die bewusste Morphemgrenze il-, ir- den Ausschlag zur Aussprache.

Rezension: Eugenio Coseriu (2024): Einführung in die Phonologie für Romanisten -355-

5. Phonologische Funktionen im Französischen (153-159): 1. die gipfelbildende (kulminative) Funktion (fonction culminative) besteht darin, zu zeigen, wie viele/ welche Einheiten (“Wörter” oder “Wortverbindungen”) sich in einer Äußerung finden; 2. die fonction délimitative / démarcative zeigt die Abgrenzung der Worteinheiten (Wortverbindungen, Wörter, Morpheme) voneinander; 3. die fonction distinctive / diacritique ist die Grundfunktion der Schalleigenschaft: Phoneme und z.T. andere funktionelle Einheiten unterscheiden die signifiants voneinander, nicht die signifiés, da es auch homophone signifiants für verschiedene signifiés geben kann. 5.1. Die gipfelbildende Funktion (154) erfüllt im Frz., Span. und Ital. der Akzent (die Betonung); die festzustellenden Einheiten sind hier nicht Wörter, sondern phonische Gruppen, z.B. ein Lexem mit seinen Proklitika und Enklitika; auch Lexeme können Proklitika sein, z.B. un beau jour, un bel giorno, un gran libro.

5.2 Die abgrenzende Funktion; Grenzsignale im Französischen (154-159) werden —wie in den anderen roman. Sprachen— nur in geringem Maße verwendet, oft nicht regelmäßig, nur wenn man deutlicher sprechen will, was besonders für die Einheit Wort im Frz. gilt. Jedes Wort mehr oder weniger getrennt auszusprechen wie im Deutschen, klingt in den roman. Sprachen fremd, die lautliche Einheit ist hier nicht das Wort, sondern die rhythmische Gruppe; für sie, als die am besten abgegrenzte Einheit, gilt im Frz. die Betonung auf der letzten Silbe, die joncture ouverte / externe in Form einer minimalen Pause. Frage (155): unterscheidet man wirklich, und wie, zwischen trois petits trous und trois petites roues, bzw. il est ouvert und il est tout vert und den zahlreichen frz. calembours, wie z.B. Allez vous laverAllez vous l᾿avez (Paul Passy 1906: §§ 70-74)?

6. Phonologische Funktionen im Spanischen (161f.): Die kulminative Funktion wird durch den dynamischen Akzent wahrgenommen, der das phonologische Wort betrifft, also die Einheit von Lexem + Morphem, z.B. Lexem + Enklitikon oder Lexem + Protoklitikon oder nur ein einzelnes Lexem: los reyes, dárselas, al despertarse, para escribirte, fonológico, me las explica, terminotérminoterminó; 6.2 Die delimitative Funktion im Spanischen (161f.), Positive Grenzsignale: A) einfache phonematische Grenzsignale gibt es nicht im Span., da kein span. Phonem nur im Anlaut, oder nur im Auslaut vorkommt; B) komplexe Grenzsignale können Phoneme sein, die auch im Auslaut vorkommen (/d/, /n/, /l/, /r/, /ð/, /s/, /x/) und dann in Kombinationen erscheinen können, die weder im Anlaut, noch im Inlaut, noch im Auslaut zugelassen sind; hier liegt die Wortgrenze nach diesen Konsonanten, in Fällen wie /d/ + /p/ (salud perfecta), + /f/ (cantidad fonológica). + /t/, + /ð/, + /d/, + /ʧ/, + /s/, + /ʎ/, + /ṝ/; /n/ + /ɲ/ (con ñaque ‚mit Gerümpel‘); /r/ + /ʎ/ (por llamar ellos a la noche ‚weil sie nachts anriefen‘),

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+ /ṝ/ (evitar ruidos); komplexe nicht-phonemat. Grenzsignale entstehen bei Kombinationen wie [z] + [w] (los huertos); [η] + [w] (están huescos); /j/ + [w] (hoy huevos); /o/ + [ṷ] (libro usado).

7. Die kulminative und die delimitative Funktion im Italienischen (163-167) ist, wie im Span., durch den Akzent (Betonung) im phonologischen Wort, d.h. im Einzelwort oder in der Wortgruppe geregelt, graphische Akzente werden nur in der Endsilbe, bei jedem Wort und jeder Wortgruppe gesetzt, z.B. città, personalità, càsa, scriviàmo, glielo scriviàmo [ʎelᴐ skri'vjamo] ‚wir schreiben es ihm‘, dàmmelo, telèfono, telefonò, telèfonano, telèfonami! usw. Häufiger als im Span. sind die parole sdrucciole, d.h. Proparoxytona wie sdrùcciolo, fèmmina, sùbito, règola, àbitaàbitano, fòrmano usw. 7.1 Fragen der Phonemdistribution im Italienischen: Problematisch ist nur die durch Latinismen, Gräzismen, Fremdwörter oder Abkürzungen (Siglen) hervorgerufene Nicht-Distribution, besonders für auslautende Konsonanten-Gruppen, mit Einschub eines unsilbischen [ə] wie in cognac, film, FIAT. Prinzipiell gelten die gleichen Schwierigkeiten auch im Frz. und Span., sie sind im Ital. besonders auffällig; im Französischen werden solche Schwierigkeiten am leichtesten angenommen, da es in seiner Lautentwicklung zu neuen Konsonantengruppen im In- und Auslaut gekommen ist. Im Spanischen sind einerseits bestimmte Konsonanten im Auslaut möglich, andererseits ist es die romanische Sprache, welche die Lautung von Fremdwörtern dem eigenen System weitgehend anpasst, z.B. in sicología, neumático, neumopatía. Im Italienischen, wo eine solche Anpassung allzu viel Änderung erfordern würde, etwa Tilgung aller Konsonanten im Auslaut von Lexemwörtern, wurde darauf verzichtet und man unterscheidet, wo die Phonemdistribution bi- bzw. trisystematisch wurde, zwischen zwei oder drei Systemen: a) echt ital. Erbwörter, b) Latinismen, Gräzismen, ältere Fremdwörter, mit Konsonantengruppen wie -pt-, -ct-, -bn-, -mn- usw., ebenso auslautende Kons. wie in habitat, gratis, est, ovest, auch Namen wie De Angelis usw. c) drittes System: neue Fremdwörter wie bar, tram, gas, film, sport, golf, auch Abkürzungen MEC (Mercato Europeo Comune).

7.2 Grenzsignale im Italienischen (166f.): A) Es gibt im Ital. keine positiven einfachen phonematischen Signale —ein aphonematisches einfaches Grenzsignal ist unsilbisches -/ḭ/ im Auslaut, mai, andai [vgl. Hrsg. 166, Anm. 34]; komplexe phonematische Signale werden wirksam durch das (seltene) Aufeinandertreffen mit dazwischenliegender Pause der Phoneme, z.B. /u/ # /u/ (su uguali tematiche), /i/ # /i/ (libri italiani), K + /ps/ (con pseudonimi); komplexe positive aphonemat. Grenzsignale sind unbekannt, B) negative einfache aphonem. Grenzsignale ergeben sich durch die Distribution der Phoneme, da gewisse Phoneme nicht im Auslaut vorkommen, so /z/, betontes geschlossenes /ó/. /w/ (oder [w]) erscheint nur selten (in

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Fremdwörtern) im Anlaut (week-end, whisky), C) komplexe phonematische negative Signale bilden Konsonantengr., z.B. zweigliedrig aus /r/, /l/, /d/, /m/, /n/, /s/, [z] + K, davon können nur /s/ + K, [z] + K und /m/ +/n/ im Anlaut vorkommen; dreigliedrige aus /r/, /l/, /m/, /n/, /s/ +K + /r/, /l/ sind möglich, Typ altro, strada; viergliedrige Konsonantengruppen sind nur innerhalb eines Wortes möglich an der Morphemgrenze, Typ: substrato, superstrato, perscrutare, exclave, nie im Anlaut. Hier sind die wenigsten Konsonantengr. erlaubt, z.B. K + /ts/, /dz/, /dʒ/, /ʎ/, /ɲ/ sowie /l/ + K, /r/ + K, /n/ + K, /m/ + K (Ausnahme Gräzismus mnemotecnica); keine Doppelkonsonanz im Auslaut, nicht im Anlaut, allgemein nicht vor K (außer vor /l/ und /r/, z.B. affrettare, approdare, affligere, affluente).

8. Romanische Vokalsysteme (169-190), 8.1 Allgemeine Typologie von Vokalsystemen: Laut Trubetzkoy (1929) sind Vokalsysteme normalerweise auf zwei Koordinaten organisiert, dem Schallfüllegrad (Öffnungsgrad) und der Eigentonklasse (hohe, palatale Vokale gegenüber tiefen, velaren). Der Unterschied zwischen /e/ – /i/ ist ein Unterschied des Öffnungsgrades, zwischen /e/ – /o/ und /i/ – /u/ der Eigentonklasse. Die roman. Vokalsysteme sind alle —wie z.B. das dt.— auf beiden Koordinaten organisiert, die meisten Systeme kennen einen dritten, mittleren Öffnungsgrad, seltener sind solche mit einem vierten, den unter den modernen roman. Literatursprachen das Spanische (allerdings ohne Qualitätsunterschiede), das Italienische, Katalanische, Rumänische und Portugiesische kennen. 8.2 Die romanischen Vokalsysteme (172-174): Unter den roman. Literatursprachen hat das Frz. das komplizierteste Vokalsystem, ein Vierecksystem (vgl. Schema S. 174). 8.2.2.1 Phoneme und Hypophoneme (175-177): Schwierigkeiten der Interpretation, wenn z.B. die drei Oppositionen /ε/ – /e/, /œ/ – / ø /, /ᴐ/ – /o/ mit Blick auf den Unterschied zwischen Archiphonem, Phonem, Hypophonem nicht in gleicher Weise gedeutet werden können. Bei diesen Oppositionen ist klar, dass nicht die Stellungen, wo sie aufgehoben werden, bestimmbar sind, sondern umgekehrt die Stellung, wo sie auftreten, so z.B. wird die Opposition /ε/ – /e/ nur im Auslaut gemacht: claieclef, faitfée, guetgué, prèspré, usw. 8.2.2.2 Andere Arten instabiler Oppositionen (178-180), z.B. /ᴐ/ - /o/: bei den velaren Vokalen wird häufiger unterschieden als bei den palatalen Vokalen, im Auslaut normalerweise [o]: peau, pot, château, nouveaux; vor /z/ immer [o] (chose, rose, close) – ['ʃᴐzε] usw. ist français méridional]; vor /r/ und /r/ + K immer [ᴐ] (tort, mort, morte, porte). Die Unterscheidung wird normalerweise sowohl in betonter als auch unbetonter Stellung gemacht cottecôte, hottehôte, haute, sogar notre, votrenôtre, vôtre); zur Opposition /a/ – /ɑ/, ihre Aufhebung hängt nicht von der Stellung ab, sondern von den Sprechern und fällt mit diatopischer und diastratischer Variation zusammen; positionelle

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Aufhebung nur in der Stellung vor /z/, z.B. base [bɑ:z], case [kɑ:z], phase [fɑ:z]; hier ist [ɑ] automatisch und keine Opposition möglich, da [ɑ:z] nicht vorkommt.

8.2.2.3 Das Problem des e caduc/ e muet (180-184, infra): Es besteht die Neigung, es zu einem automatischen Vokal zu machen, wofür nicht nur die Tatsache spricht, dass das e caduc in Fällen wie charretier, Catherine, je frotterais nicht gesprochen wird, als vielmehr, dass auch ein nichtgeschriebenes [ǝ] nach dem Dreikonsonantengesetz z.B. arc-boutant [aᴚkebu'tã] ‚Strebepfeiler‘ oder ours-blanc [uᴚsǝ'blã] ‚Eisbär‘ von 50,6% der Français non méridionaux gesprochen wird; Ratschlag von Ch. Bruneau (1931: 108) an Ausländer, nicht allzu viele “e caducs” ausfallen zu lassen, es auf jeden Fall auszusprechen —im Auslaut nach K + r. K + l, sm (aigle, cadre, mettre, souple, héroisme)— zwischen zwei Kons., der eine stimmhaft, der andere stimmlos (achever, cheval, je casse, je fais, je porte, je sais); zwischen zwei ident. Konsonanten: reste tranquille, date tartive, une salade de laitue, une âme médiocre (184)

8.3 Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich (185-187), 8.3.1: Charakteristisch für das Ital. sind die Affrikaten, von denen nur /tʃ/ auch im Span. vorkommt; charakteristisch sind hier die beiden r, /r/ und /ṝ/, vor allem die funktionelle Gestaltung der Oppositionen im Bereich der Oralkonsonanten, wo jeweils ein stimmhafter zwei stimml. gegenübersteht, und nur bei den stimml. gibt es die Opposition okklusiv – frikativ, denn die stimml. Kons. können entweder okklusiv oder frikativ sein: b – p / f, d – t / ð, ĵ – tʃ / s, g – k / x (187).

Wolf Dietrichs Bearbeitung einer der Vorlesungen Coserius und die von ihm bereits publizierten Bände von Coserius Geschichte der Romanischen Sprachwissenschaft, Bd. 2 (2020), 3 (2021), 4 (2022) verdienen höchste Anerkennung —ein eindrucksvoller Beleg auch für die editorische Vielfalt linguistischer / romanistischer Arbeiten im Narr-Verlag, Tübingen.

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1 Trubetzkoy, Nikolai Sergejewitsch (1939): Grundzüge der Phonologie, Prag; 7. Auflage 1989.

2 Die Autoren/ Werke wären in den Fachbibliotheken zu suchen oder über Online; Bibliographie, 191-204.

3 Lüdtke, Helmut (1969): “Die Alphabetschrift und das Problem der Lautsegmentierung”, Phonetica 20, 147-176.

4 Hrsg. 31, Anm. 4, erinnert an die ‚klassische Darstellung‘ von Daniel Jones (1957) und verweist auf die Arbeit von Dresher/van der Hulst (eds., 2022) als umfassendes Werk zur Geschichte der Phonologie: The Oxford History of Phonology, Oxford: Oxford University Press.

5 Hrsg. 32, Anm. 5: “Coseriu hat in seinen Vorlesungen so gut wie keine biographischen Details zu den von ihm behandelten Linguisten gegeben. Für Baudouin de Courtenay sind solche dennoch interessant. Courtenays Vorfahren stammten aus einer französischen Adelsfamilie, die als Hugenotten unter August dem Starken nach Polen gekommen waren …”

6 Bloomfield, Leonard (1933): Language, New York: Holt, Rinehart & Winston, 79.

7 Coseriu, Eugenio (1952): Sistema, norma y habla. Montevideo: Universidad de la República.

8 Rothe, Wolfgang (1978): Phonologie des Französischen. Einführung in die Synchronie und Diachronie des französischen Phonemsystems. 2. Auflage, Berlin: Erich Schmidt Verlag, vgl. 91-103: h aspiré.

Rudolf Windisch, Universität Rostock,

rudolf.windisch@yahoo.de